Ein ergreifendes Zeitzeugengespräch mit einer Holocaust-Überlebenden

Am 19. Mai wurde uns, der Klasse 9c, im Rahmen des Sozialkundeunterrichts von Frau Maurer die Gelegenheit gegeben, an einem Zeitzeugengespräch mit Frau Henriette Kretz, einer Überlebenden des Holocausts, teilzunehmen, die sich bereit erklärt hatte, uns von ihren schrecklichen Erlebnissen aus dieser düsteren Zeit zu berichten.
Zunächst einmal werde ich versuchen, einen Teil der Geschichte von Frau Kretz kurz zusammengefasst wiederzugeben und anschließend berichten, wieso sie sich eines Tages dazu entschlossen hat, über die Zeit des Zweiten Weltkrieges aus ihrer ganz persönlichen Sicht zu erzählen.

Henriette Kretz kam im Jahre 1934 in Polen auf die Welt. Ihr war es wichtig, uns klarzumachen, dass sie damals ein ganz normales Mädchen war, denn sie war, ihrem Alter entsprechend, neugierig und hob auf einer Prozession sogar mal das Gewand eines Priesters an, um zu sehen, ob er Beine hatte, da sie ihn bis dahin nur als fast überirdische Figur aus dem Gottesdienst der katholischen Gemeinde kannte. Es gab also nichts, was sie von anderen gleichaltrigen polnischen Mädchen unterschied. Nichts, außer der Tatsache, dass Henriette dem jüdischen Glauben angehörte.

Als die Deutschen Truppen am 1. September 1939 in Polen einmarschierten, waren die polnischen Verteidiger den deutschen Soldaten unterlegen. „Der Himmel stand in Flammen“, so viele Feuer brannten während des Krieges.
Ein Pakt zwischen Hitler und Stalin sorgte dafür, dass Polen ungehindert eingenommen werden konnte. Frau Kretz erzählte, dass die Menschen nicht wussten, wohin sie fliehen sollten, denn manche wollten von Osten nach Westen, weg von der Sowjetunion und andere von Westen nach Osten, weg von Deutschland. Bereits am 27. September war Polen vollständig besetzt und musste kapitulieren.

Die Judenverfolgung begann ursprünglich schon im frühen Mittelalter. Damals hieß es, dass die Juden Jesus umgebracht hätten. Hitler hatte diesen Hass auf Juden dann wieder gezielt geschürt und nun wurde dieser auch zum Gesetz.
Zuerst wurde ‘nur’ versucht, Juden von der übrigen Gesellschaft zu trennen, was durch vier Maßnahmen vollzogen werden sollte. Aufgrund der ersten Maßnahme durfte Henriette ihre Schule nicht mehr besuchen. Nach der zweiten verlor ihr Vater seine Stelle als Arzt, bei der er an Tuberkulose erkrankte Kinder behandelt hatte, und von diesem Moment an durfte er außerdem nur noch jüdische Patienten untersuchen und versorgen. Das Ziel der dritten Maßnahme war es, Juden sichtbar auszugrenzen, denn mit dem Alter von neun Jahren mussten alle Anhänger des jüdischen Glaubens eine Armbinde mit einem Davidstern darauf tragen. Die letzte Maßnahme isolierte Juden dann komplett von der restlichen Gesellschaft. Sie besagte nämlich, dass Juden ihre Häuser verlassen und in jüdischen Vierteln, ,,den Ghettos“, leben müssen, welche sich normalerweise immer in der Nähe von Synagogen befanden.

In einem dieser Viertel lebte sie mit ihren Eltern eine Weile, bis eines Tages zwei deutsche Soldaten kamen und die Familie dazu aufforderten, ihnen hinaus auf die Straße zu folgen. Rechts und links am Straßenrand standen deutsche Soldaten, und in der Mitte der Straße gingen Juden in einer Schlange hintereinander her. In diesem Moment, sagt Frau Kretz, fühlte sie sich “wie eine Verbrecherin“ und wurde auch so abgeführt. Sie hatte keine Ahnung, warum sie so entwürdigend behandelt wurde. In Folge die Säuberungsaktionen landete sie anschließend in einem Gefängnis und wurde zudem noch von ihren Eltern getrennt, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt gerade einmal acht Jahre alt war.

Sie wollte lieber verhungern als erschossen zu werden. Die Erlösung kam, als sie von einem Gefängniswärter aus ihrer Zelle geholt wurde und umgeben von jüdischen Männern in ein Ghetto für Juden gebracht wurde. Dort wurde sie wieder mit ihren Eltern vereint und obwohl seit dieser Wiedervereinigung so viele Jahrzehnte vergangen sind, erinnert sich Henriette Kretz noch genau daran, dass „ihre Eltern in diesem Moment geweint haben, wie kleine Kinder“.

Um weiterhin zu überleben, versteckte sie sich mit ihren Eltern einen ganzen Winter lang in einem Kohlekeller. Dort unten war es stockfinster, es gab keine Fenster und auch keinen elektrischen Strom, weshalb nur ein paar Kerzen Licht spenden konnten. Dennoch musste die Familie Kretz dort bis zum Frühling ausharren, bis die Temperaturen wieder stiegen, um sich schließlich auf dem Dachboden verstecken zu können. Dort oben konnte man endlich wieder etwas sehen und frische Luft spüren. Henriette Kretz sagt dazu: „Es war wie ein Eingang zum Paradies“.
Doch leider war dieses Versteck nicht gut genug gewesen, denn eines Tages wurde die Familie trotzdem von deutschen Soldaten gefunden, die sie ein letztes Mal abführen sollten. Vorher erschossen sie aber noch das Ehepaar, das der Familie Kretz bis dahin Zuflucht gewährt hatte.
Henriettes Vater entschied sich aber nun dafür, die Befehle der Deutschen nicht länger zu befolgen, und so stellte er sich auf offener Straße seinem „Verderben“. Maurycy Kretz gab einem der deutschen Soldaten zu verstehen, dass er nicht länger weiterlaufen würde und bat diesen, ihn zu erschießen, woraufhin der Soldat einwilligte, ohne auch nur mit der „Wimper zu zucken“. Doch bevor dieser eine Kugel abfeuern konnte, stürzte sich ihr Vater mit all seiner noch verbliebenen Kraft auf den Soldaten und schrie seiner Tochter zu, sie solle laufen, so weit weg von diesem Ort, wie ihre Beine sie nur tragen würden! Henriette erfüllte den letzten Wunsch ihres Vaters, rannte los und drehte sich nicht mehr um. Es fielen Schüsse, darauf folgte ein entsetzlicher Schrei ihrer Mutter und wieder eine Salve von Schüssen. Anschließend herrschte Totenstille…

Henriette Kretz war zu dem Zeitpunkt, als ihre beiden Eltern erschossen wurden, erst neun Jahre alt. Geschwister hatte sie keine. Ihre letzte Rettung war die Ordensschwester Celina, eine ehemalige Patientin ihres Vaters, die in einem Waisenhaus arbeitete, in das Henriette fliehen konnte und dort etwa ein Jahr verbrachte. Auf diese Weise überlebte sie den Holocaust.

Mit ihrer Geschichte und der Weitergabe dieser möchte Frau Kretz verhindern, dass sich solch furchtbar grausame Ereignisse wiederholen können. Menschen sollen nie wieder das Gefühl haben, sie würden einer „Rasse“ oder Glaubensrichtung angehören, für deren bloße Existenz man sie bestrafen dürfe. „Wir können alle selbst über unsere Handlungen bestimmen, denn niemand wird als Mörder geboren. Mein Ziel ist es, die Leute vor einer erneuten möglichen Gehirnwäsche zu warnen.“ Unserer Klasse hat Henriette Kretz über diese Zeit aus ihrer eigenen Erlebnisperspektive berichtet, doch sie selbst sagt, dass es nicht auf die Erzählerin oder den Erzähler ankommt.

„Meine Geschichte ist keine besondere, sondern die aller jüdischen Kinder, die zu jener Zeit gelebt haben.“

Natürlich gab es bei dem Gespräch auch noch andere sehr emotionale und auch dramatische Ereignisse, die man eigentlich erwähnen sollte, die hier aber leider jeglichen Rahmen sprengen würden. Daher würde ich gerne alle, die noch mehr Details aus dem sehr bewegenden Leben von Henriette Kretz erfahren möchten, unbedingt auf ihr Buch, ”Willst du meine Mutter sein“ – eine Kindheit im Schatten der Schoah, verweisen.

Samuel Höning 9c

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