“Nicht nur zuhören und lernen, sondern auch (mit)fühlen” – unser Treffen mit Henriette Kretz, einer Zeitzeugin des Holocaust

KLOSTER JAKOBSBERG

Am Donnerstag, den 27.04.2023 durfte die MMS 12 an einem Zeitzeugentreffen im Kloster Jakobsberg in Ockenheim teilnehmen, bei welchem der Leistungskurs Geschichte die Ehre hatte, HENRIETTE KRETZ kennenzulernen.

-Erste Begegnung mit Henriette Kretz-

Nach der Ankunft am Kloster wurden wir in einem der alten Giebelräume von einer zierlichen Frau mit eleganter Hochsteckfrisur und freundlichem Gesicht erwartet, die sich uns als Henriette Kretz vorstellte. In den folgenden etwa 90 Minuten erzählte uns Henriette von ihrer Kindheit, von der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und der Unterdrückung und Demütigung, die sie, sowie Millionen weiterer Menschen erfahren musste. Sie erzählte uns die Geschichte ihres Lebens, als eine Überlebende des Holocaust.

-Kindheit-

Henriette wurde am 26.10.1934 in Lemberg, der heutigen Ukraine geboren. Sie selbst beschreibt sich ihre frühe Kindheit als völlig „normal“: „Das war die glücklichste Zeit meines Lebens; ich hatte alles, was ein Kind benötigt: liebende Eltern, einen Hund, Freunde und die Natur.“, weiter sagt sie: „Ich war ein ganz normales Kind, wie Millionen Kinder auf der Erde.“ Es scheint ihr recht leicht zu fallen, von dieser Zeit zu sprechen, Anekdoten zieren ihre Erzählungen. An ihre ersten Bezüge zum Krieg kann sich Henriette, außer der großen Verwirrung, die die Flucht in ihr ausgelöst hat, kaum erinnern; schließlich war sie noch ein Kleinkind. Ihre Familie kam in Lemberg zusammen, welches von russischen Soldaten besetzt war. Henriette kam in einen russischen Kindergarten und erinnert sich an die Lobpreisungen, welche die Kinder für Stalin durchführen mussten. Als die Invasion durch deutsche Soldaten bevorstand, flohen die Russen und forderten Henriettes Vater, einen polnischen Arzt, auf, ihnen zu folgen, doch dieser lehnte aus Verantwortung für seine Patienten die Flucht ab.

Mit der Ankunft der deutschen Soldaten änderten sich die Leben der jüdischen Familien. Henriette schildert die antisemitischen Maßnahmen durch die Soldaten wie folgt; Zunächst durfte Henriette nicht mehr die Schule besuchen und ihr Vater verlor seine Stelle, ihm war es nur gestattet Juden medizinisch zu behandeln. Da ihr Vater aber ein angesehener Arzt war, besuchten ihn seine Patienten weiterhin und bezahlten ihn mit Lebensmitteln. Später folgte für alle Juden ab dem 9. Lebensjahr die Pflicht des Tragens eines Judenkennzeichens (Armbinde mit Davidstern), welche für die Betroffenen, so Henriette, eine offene Stigmatisierung und Demütigung bedeutete, aber auch eine gesellschaftliche Ausgrenzung. Henriette erzählt in diesem Zusammenhang auch umfassend sowohl von ihren eigenen Erfahrungen als vom historischen Kontext, dabei bindet sie uns in ihre Erzählung ein. Sie stellt uns Fragen und gibt uns die Möglichkeit unser Wissen einzubringen. Sie erzählt von der Rassenlehre der Nationalsozialisten, wie sich deren Klassifizierungen auf die Bildung und Lebenswege vieler Kinder verschiedener ethnischer Herkunft auswirkte und nicht nur Menschen jüdischer Abstammung, sondern auch slawischer und anderer Herkunft betraf. Aber auch wie die Juden vor über 2000 Jahren nach Europa gekommen waren, dass Jerusalem von Römern besetzt wurde, welche die jüdische Bevölkerung versklavten und nach Rom brachten.

Die dritte der oben erwähnten antisemitischen Maßnahme beschloss, dass alle jüdischen Familien ihre Häuser verlassen und in sogenannte „Ghettos“ umsiedeln mussten. Für Henriette bedeutete diese Veränderung auch, dass sie sich mit ihrer eigenen Identität auseinander setzten musste. Durch ihre Muttersprache und Erziehung identifizierte sie sich in erster Linie als Polin und konnte sich nicht mit den Kindern orthodox-jüdischer Haushalte identifizieren, die sich, laut ihr, optisch und sprachlich von ihrem gewohnten Umfeld unterschieden.

Als die Soldaten eines Tages im Jahre 1941 die Familien der Ghettos zu einem Sammelplatz abführten und ihnen das Versprechen gaben, sie in eine unabhängige Stadt zu führen, war sich Henriettes Vater der bevorstehenden Gefahr bewusst. Henriette erinnerte sich noch genau daran, wie sie sich schämte, als ihre Familie von den NS-Soldaten „umgesiedelt“ wurde. Sie verstand nicht, warum sie wie Verbrecher abgeführt worden sind. Ihr Vater bat einen der ukrainischen Soldaten um Hilfe, denn er hatte einige der Soldaten medizinisch versorgt. Der Soldat führte die Familie abseits des Sammelplatzes, gab vor, sie vor Ort zu erschießen, in dem er drei Schüsse in die Luft feuerte. Es wird nicht bei dem einen Mal bleiben, bei welchem der Einfluss Henriettes Vater ihr Leben rettete.

Die Familie konnte so einer Deportation entkommen, Henriette wurde bei einer polnischen Bekannten untergebracht. Sie lebte anschließend viele Monate getrennt von ihrer Familie bei der Frau mit ihrem Sohn. Die Zeit, welche sie dort verbrachte war keine Schlechte; sie verstand sich gut mit dem Jungen. Wenn Besuch kam versteckte sie sich hinter einem Schrank, um nicht entdeckt zu werden. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein Deutscher Soldat und ein Zivilist vor der Türe standen und die Wohnung unter dem Vorwand durchsuchten, dass dort ein jüdisches Kind versteckt lebte. Die Mutter des Jungen war einkaufen und er flüchtete sogleich, um sie zu warnen. Henriette kam aus freien Stücken hinter dem Schrank hervor und gab erfolglos vor, keine Jüdin zu sein. Sie wurde abgeführt. Dem Stress des Umstandes und der Tatsache geschuldet, dass sich Henriette zum ersten Mal seit Monaten außerhalb der Wohnung befand, war ihr sehr schwindelig. Sie konnte kaum selbständig geradeaus laufen, doch der Soldat weigerte sich ihre Hand zu nehmen. Selbst nach all den Jahren scheint sich Henriette sehr genau an diesen Moment zu erinnern. Daran, dass dem Soldaten seine Position und sein Ansehen zu wichtig und die Vorstellung Henriette als das zu betrachten, was sie nun mal war, ein Kind, nicht möglich war.

Henriette wurde in ein Gefängnis gebracht. Daran wie viele Tage sie dort verbringen musste, erinnert sie sich heute nicht mehr. Sie verweigerte das Essen, welches den Frauen in ihre kleine Zelle gebracht wurde. „Damals dachte ich, dass ich lieber an Hunger sterben möchte, als erschossen zu werden.“ Während ihrer Gefangenschaft litt Henriette nicht nur an Hunger, sondern auch an der Brutalität der Gefängniswärter. Einer von ihnen warf an einem Tag des Jahres 1943 ein Neugeborenes in die Zelle der Frauen; das Kind war sehr jung und ziemlich schwach. Die Frauen sorgten sich um das Baby, nährten es durch ein getränktes Tuch. Henriette nahm sich vor das Kind mitzunehmen, sollte sie aus dem Gefängnis entlassen werden. Durch Bestechung von Soldaten und Wärtern wurde Henriette tatsächlich entlassen und vergaß im Eifer des Gefechts das Kind. Sie traf in dem Ghetto, das mittlerweile größtenteils verlassen war, erneut auf ihre Eltern. Zu dieser Zeit musste Henriette großen Hunger leiden. Mit den verbliebenen Kindern durchstreifte sie das Viertel in der Hoffnung, dass jemand Lebensmittel zurückgelassen hatte. Die vollständige Liquidierung des Ghettos stand in der Diskussion; die Familie musste sich erneut in Sicherheit bringen. Vor ihrer Gefangenschaft hatte Henriettes Vater das Leben eines anderen nationalistischen Ukrainers gerettet, indem er ihn einst als hochansteckend ausgab und somit vor einer Deportation bewahrte. Besagter Soldat, Herr Pappalski, versteckte nun die Familie Kretz als Dank in seinem Kohlekeller. Den Winter über verbrachte die Familie in Dunkelheit, der Raum war zu klein, um sich in ihm bewegen zu können, Henriette verlor irgendwann ihr Zeitgefühl. Lediglich wenn ihnen Nahrung gebracht wurde, konnten sie eine Kerze anzünden. In dieser Zeit waren ihre Eltern eine große mentale Stütze für Henriette. Sie erzählten ihr Geschichten von der Familie und machten ihr Mut, die Zeit in der Dunkelheit zu überstehen.

Im Frühjahr konnten sie den Kohlekeller verlassen. Die deutschen Soldaten befanden sich auf dem Rückzug, die Familie konnte nun auf dem Dachboden leben. „Wir hatten Hoffnung, dass wir überleben:“ Henriette erzählt von dem unbeschreiblichen Glück dass sie verspürte, als sie erneut an die Helligkeit kam, frische Luft atmen und sich frei bewegen konnte, auch wenn ihr das laufen nach der langen Zeit ohne Bewegung zunächst sehr schwer fiel. Es verging nicht viel Zeit, bis sie erneut von deutschen Soldaten gefunden wurden. Sie wurden wieder abgeführt, doch Henriettes Vater widersetzt sich der Gewalt der Soldaten. Während er sich auf einen Soldaten stürzte, forderte er Henriette auf zu rennen. Henriette berichtet von diesem unvorstellbar erschütternden Ereignis mit fester Stimme: „Da hörte ich Schüsse, dann hörte ich meine Mutter schreien und ich wusste, dass ich keine Eltern mehr habe, aber ich bin gelaufen, so weit wie meine Füße mich tragen konnte.“ Sie konnte sich in den Garten eines Verlassenen Hauses flüchten. „Nie in meinem Leben habe ich mich so einsam gefühlt (…) alle Menschen um mich herum hatten mein Leben in der Hand; ich wusste nicht wer mein Freund ist und wer mein Feind.“ Henriette fand Rettung bei Schwester Celina, die ein Waisenhaus in der Stadt führte, auch als Henriette erwachsen war, blieben die beiden in Kontakt. Im Waisenhaus blieb sie schließlich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Außer ihr überlebte nur ein weiteres Mitglied ihrer Familie den Krieg, ihr Onkel. Nach dem Krieg adoptierten er und seine Frau ihre Nichte Henriette. „Die Geschichte, die ich euch gerade erzählt habe ist keine besondere. Es ist die Geschichte von allen jüdischen, verfolgten Kindern, sie waren zum Tode verurteilt.“ , beendet Henriette die bewegende Geschichte ihrer Kindheit.

-Weiteres Leben-

Als die Erzählung sich allmählich dem Ende zuneigt, erhalten wir die Möglichkeit persönliche Fragen an Henriette zu stellen. Auf die Frage eines Mitschülers, ob Henriette psychologische Hilfe erhalten hatte, um die traumatischen Ereignisse ihrer Kindheit verarbeiten zu können, antwortet sie, dass eine derartige Hilfe undenkbar gewesen sei. Die Psychologie als Wissenschaft war noch relativ an ihrem Anfang und der Glaube daran, dass das Kriegsleid der Kinder geringer wäre, weil sie die Umstände nicht begreifen konnten, war weit verbreitet. Ein anderer Schüler fragt, wie Henriette darauf gekommen war, ihre Geschichte mit der Welt zu teilen. Mit 40 Jahren hat Henriette einen amerikanischen Film über den Holocaust gesehen und empfand diesen als erschreckend unauthentisch. Henriette hatte daraufhin ihre Lebensgeschichte auf Französisch niedergeschrieben, einer von acht Sprachen, die sie spricht. Das Manuskript war zunächst nur für sie selbst bestimmt: „Das war für mich wie eine Selbsttherapie“, sagt sie. Ein Direktor der Zentrale für Politische Bildung in Polen, bat Henriette dennoch ihre Geschichte veröffentlichen zu dürfen. Ein Jahr später wurde diese schließlich auf Deutsch übersetzt und veröffentlicht. Sämtliche Erlöse daraus gehen von Beginn an den Verein „Kinder des Holocaust“, dessen Mitglied Henriette auch heute noch ist.

Dass die Welt, trotz des ganzen Schreckens für Henriette kleine und große Wunder bereithält bewahrheitet sich, als diese zusammen mit einem Filmteam auf den Spuren ihrer Kindheit unterwegs ist und in einem Zug auf Georg Bander trifft, das nun erwachsene Kind, dass Henriette 1943 im dem Gefängnis in Sambor in ihren Armen gehalten hatte. Es ist für beide ein sehr emotionales Treffen. Georg Bander war auf der Suche nach seiner leiblichen Mutter in der heutigen Ukraine. Er ist unter anderem Dichter, und hat Gedichte über die Frauen aus dem Gefängnis geschrieben, welchen er sein Leben verdankt. Im Gespräch bemerken beide, dass sie sich sogar zeitgleich in demselben Waisenhaus befunden haben, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein.

Abschließend richtet Henriette ihren Appell direkt an uns; Sie möchte, „dass jeder Einzelne gegen die Ungerechtigkeit der Diktatur kämpft, die auch heute weltweit regiert.“ Es liege in unserer Hand dafür zu sorgen, dass sich eine solche Geschichte nicht wiederholen kann.

Wir Schüler sind tief bewegt von diesem bittersüßen Treffen. Bei einem gemeinsamen Gespräch, Tage später, äußern sich einzelne, Henriettes Geschichte sei inspirierend. Auch wenn es der Mehrheit schwer fällt, die Grausamkeiten zu fassen, die die Nationalsozialisten begangen haben, waren Henriettes Erzählungen so reich an Beschreibungen, dass zumindest ein Teil davon nachempfunden werden konnte. Auch die Dankbarkeit der Schüler, einen kleinen, intimen Teil der Zeitgeschichte aus einer Primärquelle erfahren zu dürfen kristallisiert sich aus der Nachbesprechung.

Wir bedanken uns herzlich bei Henriette Kretz dafür, dass Sie uns in einer zweifellos magischen Atmosphäre einen Einblick in Ihre Vergangenheit gegeben hat. Dafür, dass wir nicht nur zuhören und lernen, sondern auch (mit)fühlen durften.

Bericht von Karolin Wilgauk MSS 12

 

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