Ein 98-jähriger zu Besuch am Röka

Eine Geschichtsstunde der besonderen Art! Am 12. Juli bekamen wir im Grundkurs Geschichte (MSS12) von Herrn Dr. Schmahl Besuch und zwar von einem Herrn, der viel zu erzählen hatte. Es handelt sich um Herrn Heinrich Karl, dem nur noch zwei Jahre zum dreistelligen Alter fehlen.

Herr Karl wurde 1924 in Kettenheim geboren, seine Familie war damals, so wie viele andere, in der Landwirtschaft tätig. Für die damaligen Verhältnisse hatte er eine „normale“ Kindheit. Er ging zur Dorfschule und verdiente sich nebenbei durch kleine Hilfeleistungen beim Dorfschmied oder bei der Feldarbeit etwas dazu. So lernte er auch seine zukünftige Frau kennen, als sie bei der Kartoffelernte wortwörtlich aufeinanderstießen, weil sie gemeinsam die geernteten Kartoffeln in einen Sack schütteten.

Als die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland an die Macht kamen, war Herr Karl neun Jahre alt. Von der NS-Ideologie blieb auch die Bevölkerung des kleinen Dörfchen Kettenheim nicht verschont. Herr Karl erinnert sich noch an die Pflanzung einer „Hitlereiche“ in der Nähe seines Elternhauses im Rahmen einer feierlichen Zeremonie kurz nach Hitlers Machtübernahme. Von seiner Zeit in der Hitlerjugend sind ihm neben dem starken Gemeinschaftsgefühl und Ausflügen auch kriegsähnliche Spiele, die die Jungen auf den kommenden Eroberungskrieg vorbereiten sollten, in Erinnerung geblieben. Den ersten Kontakt mit Judenfeindlichkeit hatte er als eine bekannte jüdische Metzgersfrau aus Alzey, die die Familie Karl und viele andere Kettenheimer mit ihrer Ware versorgte, plötzlich verschwand.

1943, zwei Jahre nach Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion wurde Herr Karl – er war damals etwa so alt wie wir heute – zum Militärdienst an die Ostfront einberufen. Dort erlernte er neben den üblichen Aufgaben eines Soldaten Sprachen und erweiterte so sein Wissen. Da sein Vorgesetzter eigentlich Lehrer war und diesem die Bildung seiner Untergebenen besonders am Herzen lag, bekam seine Gruppe neben der Ausbildung zusätzlichen Mathematikunterricht, in dem er unter anderem den Satz des Pythagoras erlernte. Zu Kriegsende geriet Herr Karl in Ungarn in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Er und einer seiner Kameraden mussten sich eine winzige Dose Käse und etwas Wasser als Tagesration teilen. Später war er einige Zeit als Kriegsgefangener in Frankreich, wo er bei einem Bauern arbeitete, mit dessen Familie er noch lange freundschaftlich verbunden war.

1948 kehrte Herr Karl nach Kettenheim zurück und konnte seine Verlobte, die ihm all die Jahre treu geblieben war, endlich heiraten. Er fand eine Stelle als Straßenwärter und arbeitete sich Stück für Stück hoch. Von seinen ersten Ersparnissen kaufte er sich ein Motorrad, eine NSU Lux, mit dem er Jahre später mit seiner Frau als Navigatorin eine Urlaubsreise nach Frankreich machte. Aus ihrer Ehe gingen zwei Kinder und weitere Nachkommen hervor, darunter unsere Mitschülerin Carolin Buschei, die uns zu Beginn der Veranstaltung ihren Uropa vorstellte. Das Gespräch moderierten Carolin Follak und Ben Baumgärtner.

Wir freuen uns, dass wir Herr Karl kennenlernen durften. Gebannt lauschten wir den anschaulichen Erzählungen des lebhaften und für sein Alter sehr rüstigen Senioren, der noch täglich einen ausgedehnten Spaziergang macht. Anschließend beantwortete Herr Karl noch zahlreiche Fragen der Kursteilnehmer. Als „Lebensweisheit“ gab er uns zum Abschluss mit auf den Weg, dass man stets bereit sein solle, sein ganzes Leben lang etwas Neues zu lernen.

Annika Druschke und Lilly Knobloch (MSS 12)

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